
Die zweite Ebene...
... Das Geheimnis unter der Oberfläche ist ein literarischer Roman über Ursprung, Wandel und Verantwortung.
Band 1 beginnt bei den universellen Anfängen: der Entstehung des Wassers und der mythologischen Welt einer Hüterin des Urwassers und des Gleichgewichts.
Von dort spannt sich der Bogen bis in unsere Gegenwart, geprägt von Umweltproblemen und einem egoistisch dominierten Weltbild.
Dazwischen begegnen wir faszinierenden Wesen aus der zweiten Ebene – mit einer ganz anderen Lebensweise, die auf Verbindung, Klarheit und innerer Verantwortung beruht.
Menschen beginnen zu erwachen, erkennen ihre Rolle im großen Ganzen und lernen, Verantwortung neu zu definieren.
Ein Roman für Lesende, die sich für Umweltbewusstsein, spirituelle Entwicklung, alternative Lebensmodelle und poetische Tiefe interessieren.
Leseprobe
Kapitel 1 – Die Schwestern
1.1. Am Rand des Bekannten
Helena saß auf dem feuchten Uferboden, die Knie eng an die Brust gezogen, die Arme um sie geschlungen wie einen Schutzschild gegen die Welt. Die Mittagshitze war endlich vergangen, ein etwas kühlerer Hauch legte sich wie ein beruhigender Schleier über den See, doch in ihr brannte ein Feuer aus Unsicherheit und Furcht. Das Wasser glitzerte weich im Licht der Nachmittagssonne, und doch fühlte es sich für sie an wie ein Abgrund, in den sie sich nicht wagen wollte.
Die Oberfläche war glatt, fast zu glatt - als würde sie etwas verbergen. Etwas, das nicht gesehen werden wollte. Etwas, was nur fühlbar war.
„Komm schon, Helena!", rief Loretta von der anderen Seite des Ufers. Ihre Stimme durchschnitt die Stille wie ein Pfeil. Sie war eine Erscheinung voller Energie und Selbstbewusstsein, ihre Schultern straff, die Augen funkelnd vor Ehrgeiz. Loretta trug ihr Haar hochgebunden, als wäre selbst das eine Entscheidung gegen das Ungeordnete. Ihre Bewegungen waren präzise, kontrolliert, fast militärisch. „Du kannst nicht ewig so dasitzen! Sei doch kein solcher Feigling!
Helena zuckte zusammen. Das war nicht das erste Mal, dass Loretta so sprach. Ihre Stimme war scharf, manchmal verletzend, und eine kaum verborgene Ungeduld lag darin. „Ich will nicht", flüsterte sie, doch Loretta hörte nicht hin.
„Du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wirklich frei zu sein", fuhr Loretta fort, während sie sich in das Wasser gleiten ließ, als wäre es ihr Element. „Wenn du im Wasser bist und alles um dich herum vergisst - DAS liebe ich! Nicht diese Angst, die dich lähmt."
Helena biss sich auf die Lippe. Loretta war die Schnellste im Schwimmverein, hatte schon mehrere Meisterschaften gewonnen, ihre Technik war perfekt, ihre Ausdauer bewundernswert. Sie war das, was man bewunderte - und fürchtete. Ein Mensch, der keine Kompromisse kannte.
„Du bist keine Schwimmerin, Helena", spottete Loretta, während sie sich mit kräftigen Zügen vom Ufer entfernte, „du bist eine Zuschauerin. Immer nur am Rand. Warum kannst du nicht einfach mutiger sein?"
Sie schien nicht zu merken, wie sehr ihre verletzenden Worte Helena trafen. Oder sie wollte es nicht merken. Vielleicht war es einfacher, Helena als Problem zu sehen, als sich mit ihrer eigenen Hilflosigkeit auseinanderzusetzen.
Helena fühlte die Tränen in ihren Augen brennen. „Ich... ich kann nicht", sagte sie leise, „Ich habe Angst. Vor dem Wasser, vor dem, was darin ist."
„Du hast keine Angst. Du bist einfach schwach", entgegnete Loretta kalt, während sie sich auf dem Rücken treiben ließ, die Arme ausgebreitet wie Flügel.
1.2. Was die Großmutter erzählte
Helena drehte sich weg, zog die Hände durch das nasse Gras. Die Worte bohrten sich tief in ihr Herz. Doch sie wusste, dass es nicht nur die Angst war, die sie zurückhielt. Es war etwas anderes, etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte.
Sie erinnerte sich an die Sommerabende mit ihrer Großmutter, als das Licht golden war und die Geschichten weich.„Das Wasser lebt", hatte sie gesagt. „Es hört zu. Es trägt. Es war schon da, bevor wir Worte hatten."
Damals hatte Helena nicht verstanden, was ihre Großmutter meinte. Nicht wirklich. Aber sie hatte etwas gespürt - eine Tiefe in den Worten, die über das Offensichtliche hinausging. Es war, als hätte ihre Großmutter nicht nur gesprochen, sondern etwas übergeben. Nicht Wissen. Eine Ahnung.
Helena hatte die Bedeutung nicht greifen können, doch sie hatte sie gefühlt. Wie ein Samen, der in ihr Herz fiel, still und unsichtbar, aber lebendig. Sie wusste nicht, was genau ihre Großmutter sah - nur, dass es mehr war als das, was andere sahen. Mehr als das, was Loretta sah. Mehr als das, was sie selbst damals begreifen konnte.
Ihre Großmutter war anders gewesen. Still, aber mit einem weiten, offenen Herz. Sie sprach selten über sich, aber wenn sie sprach, war es, als würde die Zeit selbst innehalten. Helena hatte oft das Gefühl, dass ihre Großmutter Dinge wusste, die niemand ihr erzählt hatte. Als könnte sie Erinnerungen abrufen, die nicht ihre eigenen waren - sondern die der Welt.
Und vielleicht war es genau das gewesen. Denn ihre Großmutter war eine Trägerin von Erinnerungen. Nicht nur von persönlichen Erlebnissen, sondern von Geschichten, die durch die Jahrtausende flossen. Sie war verbunden - mit allem, was war. Mit den Emotionen, den Entscheidungen, den Wunden und den Hoffnungen der Menschheit. Und sie konnte sie wahrnehmen, als wären sie Teil ihres eigenen Lebens.
Helena hatte das damals nicht verstanden. Aber sie hatte es gespürt. Und heute, am Ufer des Sees, inmitten der Spannung zwischen ihr und Loretta, erinnerte sie sich. Nicht an die Worte. Sondern an das Gefühl.
Ein Gefühl, das sagte: Es gibt mehr. Mehr als das Sichtbare. Mehr als das Messbare. Mehr als das, was Loretta forderte.
Und vielleicht war es Zeit, sich zu erinnern. Nicht nur an die Geschichten. Sondern an die Frau, die sie erzählte.
Loretta stieg aus dem Wasser, das sich wie eine zweite Haut von ihr löste. Sie trocknete sich mechanisch ab, warf das Handtuch über die Schulter und blickte zu Helena. Nicht mit Wut. Mit Ratlosigkeit.
Sie war überfordert. Nicht von Helenas Angst. Sondern von ihrer Tiefe.
Loretta konnte mit Widerstand umgehen. Mit Schmerz. Mit Konkurrenz. Aber nicht mit Träumen.
Helena war eine Träumerin. Und Loretta war eine Kämpferin. Zwei Welten, die sich berührten - aber nicht verstanden.
Sie erinnerte sich an ihre Kindheit. Wie Helena stundenlang am Fenster saß und Wolken beobachtete. Wie sie Steine sammelte, weil sie glaubte, sie hätten Geschichten in sich. Wie sie einmal sagte: „Der Wind hat mir heute etwas erzählt."
Loretta hatte gelacht. Damals. Heute lachte sie nicht mehr.
Sie sah Helena an und spürte eine Mischung aus Sorge und Unruhe. Nicht, weil Helena schwach war. Sondern weil sie stark war - auf eine Weise, die Loretta nicht greifen konnte.
„Ich will dich verstehen", dachte sie. Aber sie wusste nicht, wie.
Und so blieb sie stehen. Zwischen Wasser und Ufer. Zwischen Klarheit und Ahnung. Zwischen Schwester und Fremder.
Ein leiser Wind strich über die Wasseroberfläche, als würde er etwas sagen wollen. Doch die Worte blieben verborgen.
Helena und Loretta ahnten noch nicht, dass die Fäden ihrer eigenen Geschichte längst mit älteren Mustern verwoben waren.
Kapitel 2 – Die Hüterin der Zeit
2.1. Die Stimme der Großmutter
Helena wusste nicht, wann sie zum ersten Mal spürte, dass ihre Großmutter anders war. Es war kein bestimmter Moment, kein Satz, kein Blick. Eher ein leises Wissen, das sich über die Jahre in ihr ausbreitete - wie Licht, das langsam durch dichtes Laub sickert. Nicht greifbar, aber spürbar. Nicht laut, aber bleibend.
Als Kind saß sie oft neben ihr, während die Großmutter schweigend in den Garten blickte. Manchmal sprach sie, doch ihre Worte wirkten nicht wie Erzählungen.
Sie waren wie Tropfen aus einer Quelle, die tiefer lag als alles, was Helena kannte. Und wenn sie sprach, schien die Zeit selbst innezuhalten.
„Die Zeit ist nicht gerade", hatte sie einmal gesagt.„Sie fließt. Sie erinnert sich. Und manchmal spricht sie zu denen, die zuhören."
Damals hatte Helena genickt, ohne zu verstehen.
Aber sie hatte etwas gespürt - eine Berührung, die nicht körperlich war. Etwas, das nicht aus ihr stammte, sich aber wie Heimat anfühlte.
Die Großmutter war keine Gelehrte.
Sie zitierte keine Bücher, nannte keine Daten.
Aber sie trug etwas in sich, das älter war als Wissen - gelebte Erinnerung.
Sie sprach von Kriegen, als hätte sie sie gesehen. Von Geburten, als hätte sie sie begleitet. Von Abschieden, als hätte sie sie selbst erlebt.
Helena hatte sie einmal gefragt, wie das möglich sei.
Die Großmutter hatte gelächelt, sanft und müde. „Ich bin verbunden", hatte sie gesagt.,Mit allem, was war. Mit allem, was ist. Und manchmal auch mit dem, was kommen könnte."
Sie war eine Hüterin der Zeit.
Nicht, weil sie sie kontrollierte. Sondern weil sie die Zeit in sich trug. Wie ein stilles Gefäß, das nicht überläuft, sondern weitergibt.
In ihren Augen lag eine Tiefe, die nicht nur von ihren Jahren kam, sondern hauptsächlich von Erinnerungen.
Sie konnte schweigen, und doch sprach alles an ihr. Ihre Hände, ihre Haltung, ihr Blick - sie waren wie Seiten eines Buches, das niemand geschrieben hatte, das aber jeder lesen konnte, der bereit war zu fühlen.
Doch es war nicht nur die menschliche Geschichte, die in ihr lebte. Es war mehr. Etwas, das Helena erst viel später zu begreifen begann.
Denn manchmal sprach die Großmutter vom Wasser.
Nicht, als wäre es ein Element, sondern ein eigenes Wesen.
„Es trägt mehr als nur Strömung", hatte sie gesagt. „Es trägt Erinnerung. Und manchmal auch Bewusstsein."
Helena hatte geglaubt, das sei eine Metapher.
Doch die Großmutter sprach nicht in Bildern. Sie sprach in Wahrheiten, die sich nur langsam enthüllten.
„Es gibt Wesen, die im Wasser leben", hatte sie einmal leise gesagt, als der See in der Abenddämmerung lag. „Nicht sichtbar. Nicht greifbar. Aber fühlbar. Sie sind alt. Und sie erinnern sich."
Helena hatte sie angesehen, verwundert, aber nicht zweifelnd. Denn in der Stimme ihrer Großmutter lag kein Zweifel. Nur Gewissheit.
„Sie sind Hüter", hatte sie gesagt. „So wie ich. Nur auf andere Weise. Sie bewahren das Gleichgewicht. Und manchmal suchen sie die Verbindung - zu denen, die zuhören können."
Die Großmutter hatte nie verlangt, dass man ihr glaubte. Sie hatte einfach gesprochen - und gewartet, ob jemand lauschte.
Manchmal saßen sie gemeinsam am See.
Die Großmutter blickte auf das Wasser, als würde sie darin lesen.
Und Helena spürte, dass die Oberfläche nicht das Ende war.
Sondern nur der Anfang.
„Das Wasser erinnert sich", hatte sie gesagt. „Es trägt alles, was war, die gesamte Vergangenheit. Und manchmal zeigt es uns, was wir vergessen haben."
Helena hatte nicht gefragt, wie. Sie hatte nur genickt, noch ohne echtes Verstehen. Aber in ihr Herz war ein kleiner Samen gefallen - nicht aus Wissen, sondern aus Vertrauen...